Selbstreflexion
(Ein Text von mir aus 2022)
Ein kalter Novemberabend. Die Stadt, durch die ich laufe, ist von Lichtern erhellt. Das Schwarz der Nacht legt Ruhe in all das Laute der geschäftigen Einkaufsstraße. Ich biege in eine Nebengasse ab, um dem Trubel zu entkommen und der Stille der Nacht näherzukommen.
In der Gasse erblicke ich eine Person, von der ich mich nicht abwenden kann. Auf den ersten Blick wirkt sie nicht besonders. Man kann ihr Alter nicht schätzen. Noch jung, aber so alt, dass sie selbstsicherer und reifer wirken müsste. Es ist keine auffällige Person. Keine, die ihrer Ausstrahlung oder ihres Aussehens wegen alle Blicke auf sich zieht. Warum kann ich mich dann nicht von ihr lösen?
Sie sieht aus, als ob sie eine Frau ist. Aber dafür bewegt und kleidet sie sich nicht entsprechend. Wäre sie ein Mann, würde man sie vielleicht eher attraktiv, zumindest nicht unattraktiv, finden. Der Hoodie über die kurzen, nicht zurecht gemachten Haare, praktikabel gekleidet, Sneaker, ein Gang, der nicht weiblich ist. Ob die Person wohl mit „sie“ oder „er“ angesprochen werden möchte? Oder ganz anders? Der Blick wirkt durch die nach unten hängenden Mundwinkeln genervt. Die Augen sind müde und leer. Je nach Blickrichtung wirken sie ein wenig zu groß, zu glubschig.
Als wir uns näher kommen, huscht ein wunderschönes Lächeln über ihr Gesicht und die Augen strahlen plötzlich. Es ist, als stehe eine andere Person vor mir. Ich sehe Schönheit, Energie und Lebensfreude. Doch nur für einen kurzen Augenblick. Es scheint anstrengend, diese Ausstrahlung aufrechtzuerhalten. So beobachte ich, wie die Person wieder grau, wieder hässlich wird. Und doch hält mich etwas bei ihr.
Jetzt bemerke ich allerdings, dass der Kopf leicht schief und nie gerade auf dem Hals ausgerichtet ist. Es sieht ein wenig aus, als gehörte der Kopf nicht zum Körper. Es scheint, als sei der Person dies bewusst, denn sie versucht immer wieder, Hals und Kopf unbeholfen in eine anschauliche Position zu bringen. Auch die Mundwinkel zucken immer mal wieder angestrengt nach oben. Wahrscheinlich um dem Gesicht ein netteres Aussehen zu verleihen. Doch die Anstrengungen führen eher zu einem hässlichen Schauspiel aus sich ungleichmäßig bewegenden, unsymmetrischen Mundwinkeln und komischen Hals- und Kopfstellungen. Ob sie weiß, wie komisch sie auf die Außenwelt wirkt?
Eine mitfühlende Kraft bringt mich dazu, ihr näher ins Gesicht zu schauen. Eine glatte Haut. Die Augen wirken trotz der Müdigkeit sanft und ehrlich. Mich überkommt das Gefühl, für immer in diese Augen schauen zu wollen, weil ihr Blick mich hält. Auf einmal ist die Hässlichkeit wieder verschwunden. Weggewischt von der Sanftheit der Augen und der weichen Stirn. Bis die nächste komische Kopfbewegung kommt. Vorbei ist der Moment der Verbundenheit. Ich verstehe die Person nicht und möchte weitergehen. Ich möchte die Ruhe der Nacht spüren. In den Frieden der Dunkelheit eintauchen.
Als ich weitergehe, verschwindet auch mein Spiegelbild.
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